Das Matterhorn besteigen – ein Erlebnisbericht

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Das Matterhorn besteigen – ein Erlebnisbericht

Vertrauen und Verantwortung am Matterhorn

Ivo Meier über die Matterhorn Besteigung: Es ist meine Berufung, aber auch mein Beruf, Berge zu besteigen und Menschen dabei zu helfen, die Bergwelt zu erfahren. So ist jeder Berg, aber auch jede Besteigung anders, nicht nur von der Form her des Gebirges, sondern auch inhaltlich: Berge verkörpern Emotionen, eine Lebenseinstellungen, ja, sind mit einer existenziellen Erfahrung verbunden. Das Matterhorn ist für mich in dieser Hinsicht einer der wichtigsten und prägendsten Berge, die ich je bestiegen habe. Und ich habe den Aufstieg inzwischen siebzehn Mal gewagt.

Der Reiz des Matterhorns liegt für mich einerseits in seinem Massiv, in dem es das Ideal eines Berges verkörpert, und andererseits darin, dass es sich nur durch durchgängiges Klettern bezwingen lässt. Hier trifft in beinahe idealer Weise Form und Aktion. Sie machen seine Attraktion aus und machen ihn gleichzeitig zu einer der höchsten Stufen für mich als Bergführer, gerade auch zusammen mit einem Gast. Und genau dies ist es, worin dann meine Kunst besteht: Meinem Begleiter den Traum der Matterhornbesteigung zu erfüllen.

Sicherlich ist der Weg, die Anstrengung, die Überwindung, die Konzentration auf jede Bewegung, eigene wie fremde, das, was den gemeinsamen Aufstieg prägt; das gilt unabhängig davon, ob wir es bis ganz nach oben schaffen. Besonders groß ist aber die Freude mit einem Gast, der seiner Herausforderung gewachsen war, seinen Erfolg genießt, oben zu stehen, den Gipfel erreicht zu haben. Diese Freude entspricht meiner Konzentration, die beinahe zu hundert Prozent auf dem Gast oder besser noch auf unserer Gemeinsamkeit liegt.

Gerade am Matterhorn beherrscht dabei der Gedanke: Wo gehe ich und wo geht dann als nächstes mein Gast. Das tragende Gefühl ist die ununterbrochene Verantwortung, die ich für mich und meinen Begleiter habe, die Einheit, die wir am Berg bilden und die dennoch nicht gleich gewichtet ist. Denn meiner Verantwortung für unsere Gesundheit und unser Leben steht sein Vertrauen in mich gegenüber.

Verantwortung und Vertrauen, dies ist am Matterhorn das kurze Seil, das uns permanent verbindet, das ständig auf Spannung gehalten werden muss, damit es nicht lose hängt, nicht ruckt, uns nicht aus dem Gleichgewicht bringt. Diese Verbindung  ist ebenso wichtig, wie die echte Spannung auf dem kurzen Seil zwischen Bergführer und Gast, die uns gemeinsam stark macht und Halt gibt. Und es war das Matterhorn, das mich gelehrt hat, wie eng der materielle und mentale Aspekt zusammenhängen.

Kein Moment, in dem ich mich nicht im Verhältnis zu meinem Gast sehe: Er bestimmt mein Vorgehen. Dass ich ununterbrochen und aufmerksam unserer beiden Interessen wahrnehme, ihn wahrnehme als Teil meines eigenen Lebens, ist sein berechtigter Anspruch. Dies ist der Zug, der uns am Berg verbindet, uns zu einer Einheit macht, auf Gedeih zusammenhält.

Risiko und Respekt: Das Matterhorn besteigen

Wie schwer, wie gefährlich es wird, wenn im falschen Moment die Spannung zwischen Gast und Bergführer verloren geht, das musste ich schmerzlich erfahren. Nachdem mein Gast – ein erfolgreicher Geschäftsmann, der es gewohnt ist, Entscheidungen zu treffen – und ich uns fünf Tage lang Zeit zum Eingehen genommen hatten, wie aneinander gewöhnt waren und gesehen hatten, dass die zwischenmenschliche Chemie stimmt, sind wir am Matterhorn zur Hörnlihütte aufgestiegen. Alles lief hier wie gewohnt: Die Einweisung, die Absprache der Zeitplanung, der Aufbruch, der Aufstieg bis zur Schulter.

Hier zeigten sich dann bei ihm erste Spuren der Anstrengung, bis sich beim vorletzten Hanfseil auch durch Zuspruch und neuerlichen Angang bei ihm keine Kräfte mehr mobilisieren ließen. Nun, auch 120 Meter unterhalb des Gipfels ist eine Umkehr kein Problem, zumal das Wetter an diesem Tag gut war. Ich leitete ihn also beim Abstieg an, sagte, wo er sicher treten, greifen, stehen könne. Wichtig ist in solchen Momenten, dass die Anweisungen präzise kommen: Wohin soll der Schritt gesetzt, wie soll die Drehung ausgeführt, mit welcher Hand soll sich gehalten werden.

Dieses permanente Eindenken in den Gast, seine Position, seinen Bewegungen, während man sich und den Gast sichert, kostet unglaublich viel Selbstbeherrschung und Energie. In solchen Fällen ist die Verantwortung des Bergführers, seine Erfahrung und seine Entscheidungssicherheit die große, aber auch die einzige Lebensversicherung, auf die sich der Gast verlassen kann.

Wenn der Gast sich aber plötzlich nicht mehr auf die Anweisungen verlässt, wenn er die einzelnen Schritte hinterfragt, wenn er die Entscheidungen, die in seinem Sinn getroffen werden, problematisiert, dann hängt das mentale Seil durch. Und genau dies begann hier am Matterhorn: Er war nicht mehr in der Lage, meine Anweisungen auszuführen, ja zu verstehen, stellte alles in Frage und blockierte sich und mich am Abgrund. Es war nicht der Zweifel an mir, es war seine Angst, sich fremden Entscheidungen zu überlassen, seine Unfähigkeit zu vertrauen, die das emotionale Seil schlapp werden ließ.

Während ich permanent versuchte, ihn physisch und psychisch zu stabilisieren, problematisierte er jede Bewegung und suchte in sprachlicher Konkretisierung die Führungssicherheit, die ihn normalerweise als Entscheidungsträger auszeichnete und die er mir in der Ausnahmesituation nicht überlassen wollte. Seine Angst zwang ihn zum Machtkampf. Tatsächlich schaffte ich es, ihn dahin zu bringen, eine Zeitlang einfach meine Kommandos auszuführen, ohne über sie nachzudenken oder sie in Frage zu stellen. So gelang es uns einen Teil der Strecke sicher hinter uns zu bringen.

Doch dann war es, als ob ihn das Befolgen fremder Befehle seine letzte Überwindungskraft gekostet habe. Er fiel zurück in seine alltägliche Chefrolle, in der er gewohnt war zu führen und verstärkte die Gefahr noch durch die Androhung, selbst die Initiative zu ergreifen. „Was passiert eigentlich, wenn ich an dem Seil zieh.“ Diese Frage, deren Antwort er als Bergsteiger selbst kannte, machte mir Angst. Zu toppen wäre sie wahrscheinlich in diesem Augenblick, nur gewesen durch die Ankündigung, er werde gleich springen. Noch befanden wir uns oberhalb des Solvay Biwak, noch lagen rund 800 Höhenmeter bis zur Hörnlihütte vor uns.

Oft habe ich inzwischen darüber nachgedacht, ob es die bessere Alternative gewesen wäre, in dieser Situation die Schweizer Bergrettung zu holen. Im Nachhinein dann bewahrheitet der Erfolg die richtige Entscheidung. In einer Situation die Entscheidungsstärke erfordert, macht es aber keinen Sinn Kraft und Zeit im Wenn und Aber zu vergeuden. Hier zählt Erfahrung und Handlungssicherheit und das Vertrauen in die eigene Kompetenz. Dass diese nicht in blinde Überschätzung mündet, dafür ist allerdings der Zweifel im Nachhinein ebenso wichtig, wie die folgenden Gespräche der Beteiligten, mit erfahrenen Bergführern, und der Zuspruch von Kameraden und Freunden.

Unter dem Strich ist es die kritische Selbstdistanz, die uns in Zukunft dazu befähigt, uns selbst und den Weg, den wir gehen, rechtzeitig zu hinterfragen, um in gefährlichen Situationen nach Möglichkeit richtig, vor allem aber entschlossen zu handeln. Und so dirigierte ich am Matterhorn nahe aufgerückt an meinen Gast, oft in Körperfühlung und durch dauernden Zuspruch und konkrete Anweisungen ihn schließlich bis zum Einstieg.

Das Matterhorn hat mir gezeigt, wie existentiell es ist, nicht nur die eigene Sicht auf die Dinge zu haben, sondern auch permanent den Blickwinkel des anderen zu berücksichtigen und seinen Anspruch auf meine Verantwortung ebenso zu respektieren, wie seine Angst, mir sein Vertrauen bedingungslos zu geben. Zwischenmenschliche Störfaktoren lassen sich niemals und nirgendwo ausschließen. Aber solange einer das Seil strafft, haben wir Halt.

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Schwierigkeit

Das Matterhorn besteigen - eine Matterhorn Besteigung steht auf der Wunschliste vieler Alpinisten aus aller Welt. Bevor es Edward Whymper 1865 schließlich gelang, den Gipfel der „Pyramide Gottes“ zu erreichen, scheiterten schon hunderte von Alpinisten bei dem Versuch, diesen einzigartigen Berg zu bezwingen. Auch über 150 Jahre nach der Erstbesteigung des Matterhorns ist eine Matterhorn Besteigung noch immer ein ganz besonderes Highlight im Leben jedes Bergsteigers. Und sie sollte jedoch nicht unterschätzt werden: Seit 1865 sind über 450 Bergsteiger am Matterhorn ums Leben gekommen, mehr als an jedem anderen Berg der Erde.

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1 Kommentar

  1. Oh tolle Bilder – danke für das Teilen.
    Aber auch Danke für die Ehrlichkeit, dass nicht alles gefahrlos ist und es – egal wie viele es auch machen mögen – immer eine Portion Mut dazugehört und man immer seine eigenen Erfahrungen und speziellen Momente hat!

Kommentare

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