Bergsteigen extrem
Sind 74 Viertausender in 35 Tagen machbar. Bergführer Ivo Meier stellt sich vor
Ivo Meier, Jahrgang 1979, gebürtiger Karl-Marx-Städter, ist seit gut 20 Jahren in den Bergen und seit über vier Jahren professionell als staatlich geprüfter Berg- und Skiführer in den Bergen unterwegs. Nach mehreren theoretischen Überlegungen in ein Studium zu beginnen, verzichtete er jedoch darauf und damit auf eine „herkömmliche“ Karriere, um sich stattdessen professionell seiner Leidenschaft, dem Alpinismus und dem Klettern, zu widmen. Mit großer Kompetenz übt er seine Tätigkeit als Bergführer oder als Alpinist in den Alpen, auf den Sechstausendern in Südamerika oder in verschiedenen Regionen des Himalayas. Zurzeit führt er bei der Bergsportschule Alpine Welten Hochtouren, Skitouren, Klettersteig- und Ausbildungskurse durch. 74 Viertrausender in 35 Tagen zu gehen war eines seiner Projekte. Wer hinter diesem Projekt steht, steht hier:
Es ist immer mein Leben
Der Gipfel ist nur der halbe Weg. Vielleicht ist dies die wertvollste Erfahrung, die mich die Berge gelehrt haben. Der Erfolg, das Ende des Wegs, ist nicht dort, wo wir erfüllt sind, wo wir an der Spitze dessen stehen, was wir uns erträumt haben. Der Erfolg einer Bergtour ist, wieder wohlbehalten zum Ausgangspunkt zurückzukehren. Das gilt auch, wenn wir in diesem Augenblick zu müde für jede weitere Erfahrung sind, unfähig, diesen Endpunkt als Glückserlebnis zu begreifen.
Wer über die Berge spricht, von dem wird erwartet, dass er in Sonnuntergängen schwelgt, von aufziehendenden Wettern berichtet, Felswände beschreibt und die Erinnerung an kritische Situationen beschwört. Das mag alles plakativ und eindrucksvoll sein. Prägend allerdings ist die Normalität des Bergs. Seine Gegenwart. Der Weg zu ihm. Die Menschen, die uns begleiten.
Das Gute an diesen Erfahrungen ist, dass jeder von uns sie machen kann. Sie sind nicht reserviert für eine kleine Gruppe gut trainierter Extremsportler. Sie sind nicht vorbehalten für Leute, die sich wochen-, ja bisweilen monate- oder jahrelang auf einen Berggang vorbereiten, obwohl dies sicher nicht schadet und das Training eine eigene intensive Körpererfahrung mit sich bringt. Die Bergsucht, von der ich spreche, beginnt aber viel früher. Sie nimmt ihren Ausgang beim Wandern, auf Treckingtouren und auch beim Skifahren.
Genau hier hat meine Bergerfahrung begonnen, beim Bergwandern mit meinem Vater in den engen Grenzen der DDR, in die hinein ich geboren wurde. Wir sind gegangen, in den Harz, den Thüringer Wald, aber auch in die Karpaten, Bulgarien, bis dann die Wiedervereinigung mir die Grenzen nicht nur in die Weite, sondern auch in die Höhe öffnete. Jetzt standen uns die Alpen offen, zunächst Zweitausender wie der Watzmann, die für mich am Übergang vom Bergwandern zum Bergsteigen standen.
Die Herausforderung, die mich einst an die noch kindlichen Grenzen brachte und mich lehrte, dass ich sie – durchaus auch unter Tränen und Schmerzen – überschreiten kann, ließ in mir den Wunsch nach mehr erwachsen. Und so fiel meine erste eigene Wahl, die mich mein Vater treffen ließ, mit dem Mont Blanc auf den höchsten Berg der Alpen. Das Glück, auf seinem Gipfel zu stehen war das Schlüsselerlebnis, das mein ganzes Leben bestimmen sollte.
Ballast identifizieren
Doch nicht nur das emotionale Erlebnis, sich in Sonnenschein vom höchsten Punkt aus von der Weite der Landschaft überwältigen zu lassen, prägte mich. Auch die praktischen Erfahrungen – wie der mit 20 Kilogramm viel zu schwere Rucksack – lassen mich Anfängerfehler heute noch nachvollziehen und verstehen. Die Lehre, dass die meisten zu viel Gepäck einpacken, nur weil man den verfügbaren Stauraum des Rucksacks nutzt, lässt sich übrigens problemlos aufs Leben übertragen. Wir neigen dazu, uns mit zu viel Ballast zu beladen, den wir nicht brauchen. Wie sehr überflüssiges Gewicht uns belastet und uns im Fortkommen hemmt, das lässt sich leicht über eine Eingehtour vermitteln, die die Teilnehmer meiner Bergtour mit selbstgepacktem Rucksack angehen.
Wer bereit ist, sich ehrliche Rechenschaft darüber abzulegen, was er nicht braucht, der kann sich entlasten. Das ist allerdings nicht immer einfach. So kam einer meiner Expeditionsteilnehmer mit einer vollkommen veralteten Ausrüstung, von der er sich trotz meines Rats nicht trennen wollte. Das Resultat war, dass der Teilnehmer die Tour abbrechen musste. Sein Equipment war zu kalt, zu klamm, zu schwer, längst nicht mehr auf der Höhe der Zeit. Und diese Altlast ließ ihn in der Gegenwart scheitern.
Wer sich Herausforderungen stellen will, wie beispielsweise der Besteigung der 82 Viertausender-Alpen-Gipfel, der muss auch mit Beschränkungen klarkommen. Dies betrifft auch bei der Zielsetzung die Konzentration aufs Wesentliche. Da mein Partner Michael Schubert und ich zum Zeitpunkt unserer Tour noch bei der Bundeswehr waren, hatten wir nur 35 Tage Zeit für das gesamte Unternehmen. Uns war klar, dass dies eigentlich nicht zu schaffen war. Und so bestand die große Herausforderung darin, sich nicht dem Druck des Erfolgs zu beugen, sondern die Kräfte gezielt einzusetzen. Das Resultat war, dass wir in unserem Zeitfenster 74 Gipfel geschafft haben. Der Erfolg bestand also in der verantwortungsvollen Planung, die keine unnötigen Risiken einging.
Die Verantwortung, die wir am Berg tragen, geht über die Einzelnen hinaus. Das gilt selbst, wenn wir alleine unterwegs sind, die Einsamkeit menschenfreier Bergwelten genießen, da auch hier im Falle einer Unvorsichtigkeit, die zum Unglück führt erfahrungsgemäß viele Menschen gefährdet sein können, ja im Endeffekt Retter oft ihr eigenes Leben riskieren müssen, da Bergopfer einfach leichtsinnig waren. Vor allem aber ist die Verantwortung füreinander, auf der gegenseitiges Vertrauen beruht, ebenso haltbar wie das Seil, das uns aneinander bindet. Wird dieses Vertrauen gestört, so ist dies im Grunde das Ende einer Tour.
Verantwortung übernehmen
Diese Erfahrung musste ich leider einmal am eigenen Leibe machen. Trotz objektiv guter Bedingungen von Wetter und Weg brachte uns die psychische Labilität des Partners in Lebensgefahr, der bei einer Matterhornbegehung während des Abstiegs anfing, alle Schritte nachzufragen und alle Anweisungen zu problematisieren, schließlich Selbsttötungsphantasien nachhing. Ob Höhenluft, Depression oder schlechter Scherz ist für solche eine subjektive Gefahr unerheblich. In dem Augenblick, wo sich der Partner nicht mehr der gemeinsamen Verantwortung bewusst ist und stellt, ist der Fortgang der Tour zu Scheitern verurteilt. Auch dies ist eine Erfahrung, der sich alle Teilnehmer – hoffentlich nur im besten Zusammenhang – stellen müssen: Das menschliche Miteinander ist zwar nur ein fragiles Netz, muss aber in allen kritischen Situationen den Absturz aufhalten. Das ist im Leben nicht anders.
Eines lernt man am Berg: In Extremsituationen die Nerven zu behalten. So entschloss ich mich, nachdem ich in Chile inmitten der Atacama-Wüste mit einer Reifenpanne liegengeblieben und der Ringschlüssel beim Radwechsel gebrochen war, erst einmal den vor mir liegenden Sechstausender zu besteigen und dann eine Entscheidung zu treffen. Zwar bestand keine Lebensgefahr, doch war das gesamte Projekt – 16 Sechstausender in 16 Tagen – in Frage gestellt. Schließlich riskierte ich es, auf Felgen eine einhundert Kilometer entfernte Grenzstation zu erreichen. Dort konnte ich den Reifenwechsel vollziehen und somit die Tour fortsetzen. Kurz: Auch wenn die Lösung nicht spektakulär erscheint, so hätte doch jede übereilte und unbedachte Spontanreaktion die gesamte Expedition scheitern lassen.
Und doch gehört auch der Mut, den Gipfel nicht zu erreichen, zu den Entscheidungen, die uns abverlangt werden und mit denen ich auch die Teilnehmer der von mir geführten Bergtour vertraut mache. Der Weg und der Mensch der ihn geht, müssen zusammenpassen. Dass ich diese Kombination sehr wohl einzuschätzen verstehe, bewies sich, als einer meiner Teilnehmer am Mont Blanc auf 4.400 Meter apathisch in sich zusammensank. Bei einer Windgeschwindigkeit von 60 bis 80 Stundenkilometern wollte er an dieser Stelle aufgeben und ließ sich nur am kurzen Seil durch tatkräftige Unterstützung vorbei am 300 Meter entfernten Gipfel zum einfacheren Abstieg auf der anderen Seite bringen.
Dass in solchen Situationen ein erfahrener Bergführer auch einmal im besten Sinn handgreiflich werden kann ist ebenso wichtig wie die Sicherheit, die Teilnehmer in präzisen und unmissverständlichen Anweisungen anzuleiten. Nicht zuletzt aber ist es die Erfahrung, die den Menschen mit dem richtigen Berg, der passenden Route und dem geeigneten Ziel zusammenbringt. Dass ich die Leistungsfähigkeit der Menschen richtig einschätzen muss, heißt nicht, dass ich sie vor großen Anstrengungen bewahren kann oder will. Denn seine eigenen Kräfte auszuloten, sich mit Disziplin zu motivieren und die inneren Grenzen zu überschreiten lässt uns erst jene Ziele erreichen, die wichtig sind.
Die Berge, älter als wir es uns vorstellen können und so groß, dass wir in ihnen verschwinden, bestimmen die Szene. So winzig und unbedeutend wir aber auch erscheinen, bleiben wir doch die Akteure. Es ist das Licht, es sind die Steine, es ist der Weg, vor allem aber ist es der Mensch, der mich bewegt, der mich meine Schritte suchen lässt, der nach festen Halt sucht in einer Landschaft , die alles bietet , nur eben dieses nicht. Denn das ist die Gewissheit, mit der man leben muss, und die man hier am eigenen Leib erfährt: Dass es keine Sicherheit gibt oder, besser, dass jede Sicherheit die man findet in einem selber liegen muss, sich ergibt aus der Wahl der Schritte, der Wahl der Mittel, der Wahl der Begleitung und im genauen Blick auf all die anderen und uns selbst. Was auch mit einem von uns passiert, es betrifft immer auch mein Leben. (Ivo Meier).
Ivo Meier ist Profibergführer der Bergschule Alpine Welten: Die Bergführer.