Mount Kenya Besteigung – Aufstieg zum zweithöchsten Berg Afrikas
Mount Kenya Besteigung: Entscheidungen sind ein steiles Feld
Verlust und Gewinn am Mount Kenya
Entscheidungen müssen im Leben in vielen Situationen getroffen werden. Am Berg allerdings bleibt oft wenig Zeit, die verschiedenen Alternativen zu bedenken. Doch an mancher spontanen Entscheidung hängen Leben. Der Handelnde muss sich dessen bewusst sein, der Verantwortung mutig stellen und darf nicht zögerlich seine Chance vergeuden. Wie tief diese existentielle Komponente unseres Sports geht und wie weit sie ins Leben reicht lehrte vor einigen Jahren mich die Tour, bei der ich mit meinem Vater in Ostafrika die drei Gipfel des Mount Kenya bestieg. Diese Erfahrung hat mich bis heute nicht wieder losgelassen.
Mein Vater war von Anfang an dabei: Erst haben wir kleinere Berge gemeinsam erwandert, später größere zusammen bestiegen, lange bevor ich alleine meiner Wege ging. Unser Verhältnis ist geprägt durch einen respektvollen Umgang, bei dem mein Vater stets meine Meinung akzeptiert hat. Toleranz und Verständnis prägt unseren Umgang miteinander. Es ist nicht zuletzt dieses partnerschaftliche Verhältnis, das sich bei unseren Bergtouren immer wieder bewährt hat. Und es war genau dieser Geist, der uns bewegt hat, gemeinsam unseren ersten 5.000er anzugehen, das erste Mal außerhalb von Europa.
Schon der Aufbruch in Kenia gestaltete sich für uns anders als gewohnt. Die Querung des Urwalds mit dem Jeep endete damit, dass die Mitfahrer uns mit Waffen – unter anderem einem deutschen G3 – bedrohten und um den Transportpreis aufs Vierfache zu erhöhen. Wir zahlten für die Fahrt und die Lehre, dass nicht überall das gilt, was man vereinbart.
Solch eine Verunsicherung ist nicht die beste Ausgangslage für eine Bergtour, resultiert psychisch in einer gewissen Haltlosigkeit. Dennoch gingen wir nach wenigen Tagen bereits den Point Lenana an, den niedrigsten der drei Gipfel des Mount Kenya. Nach seiner Ersteigung konnten wir bereits am nächsten Tag den Nelion – den zweithöchsten Gipfel– besteigen und entschlossen uns auch den dritten, den höchsten Gipfel noch am gleichen Tag in Angriff zu nehmen. Wir seilten uns also ab in die Scharte durch die man zum Gipfel des Batian gelangt. Nun aber verschlechterte sich die Wetterlage, es fing an zu schneien und der Anstieg war vereist, was den Aufstieg erschwerte.
Trotz dieser Widrigkeiten erreichten mein Vater und ich am Mittag den höchsten Gipfel des Mount Kenya, verbunden mit der üblichen Euphorie, die auch Schneefall und Nebel nicht zu trüben vermochte. Der erneute Abstieg ins Col ging rasch. Dort allerdings ereignete sich ein kleines Missgeschick, das im Rückblick beinahe als Omen für die kommenden Stunden erscheint: Meinem Vater entglitt bei der Entnahme aus dem Rucksack die Wasserflasche und verschwand abwärts auf Nimmerwiedersehen. Da wir nur einen Rucksack mit uns führten, den wir abwechselnd trugen, hatten wir nunmehr keine Flache mehr dabei.
Mount Kenya Besteigung: Am Rande des Ermessens
Um abzukürzen entschieden wir uns, für den Rückweg nicht noch einmal den Weg über den Nelion einzuschlagen, wie wir gekommen waren, sondern im Col direkt weiter abzuseilen. Nach rund 200 Meter erreichten wir ein 300 – 400 Meter breites Schneefeld mit fünfzig Grad Gefälle, gefolgt von einem rund 900 Meter tiefen Abbruch. Unser Plan war, das Schneefeld hinter uns zu bringen und die gegenüberliegenden Felsen zu erreichen. Ich fixierte also am oberen Ende des Schneefelds unseren Rucksack an einem Karabiner, sicherte meinen Vater und ließ ihn bis zum Ende des Seils ab, von wo er – so unser Plan– das Feld parallel zur Kante queren sollte. Allerdings erwies sich das Schneefeld zunehmend als Eisfläche, in der sich kaum Halt finden ließ. Verzweifelt suchten die Beine meines Vaters auf dem gefrorenen Grund Tritt. Und ich wartete darauf, dass er Fuß fasse, um das Seil zu lösen, und ihm zur anderen Seite zu folgen. Doch immer wieder rutschten seine Füße, glitt er ab, hielt ihn nur noch die Sicherung.
Kurz, ich sah meinen Vater fünfundvierzig Meter von mir, ein ganzes Menschenleben entfernt und gleichzeitig im Schicksal verbunden mit mir, seinem Sohn, am anderen Ende des Seils. Und ich traf die Entscheidung, dass es weiter gehen muss, beinahe emotionslos, in einem ewigen Moment ohne Angst, für die keine Zeit blieb. Ich wusste, welche Strapazen vor uns liegen, nicht aber, was uns erwarten würde, als ich zum Seil griff und meinen Vater zurückholte. Kaum aber dass mein Vater neben mir wieder Boden unter den Füßen hatte, gerade als ich die Sicherung umbaute, rutschte mir jetzt der Karabiner herunter, der unseren Rucksack hielt. Und unaufhaltsam glitten sie über die spiegelglatte Eisfläche, unsere Reisedokumente, unser Pass, unsere Tickets und auch unser letzter Proviant, um dann senkrecht in der Tiefe zu verschwinden.
Nicht, dass ich in diesen Minuten Furcht ums Leben meines Vaters, Angst um mein eigenes Leben gehabt hätte, beide hier oben untrennbar verbunden. Nein, mein ganzes Dasein war Entscheiden und Handeln. Keine Zeit zu zweifeln, zu zögern, zu zaudern. Die große Erschütterung kam erst viel später in den folgenden Jahren, nicht kurz und vergänglich wie die Situation am Eisfeld des Mount Kenya, sondern dauerhaft, wiederkehrend und unabänderlich. Immer wieder frage ich mich, was gewesen wäre, wenn mein Vater in diesem Moment am Rande des Abgrunds trügerisch Tritt gefasst hätte, meine Sinne für ihn und mich nicht scharf genug gewesen wären, ich ihn und mich in falscher Sicherheit gewogen hätte, kurz: Ich mich ganz einfach anders entschieden hätte.
Damals blieb für solche Überlegungen nicht die Muße. Ohne Rucksack sahen wir nun nur im Rückweg den Ausweg: So gingen wir den erneuten Aufstieg über das lose Gelände an zum Col hinauf, erklommen von dort im Schneefall wieder den Gipfel des Nelion, seilten uns auf der anderen Seite mit der vollen Länge unseres fünfzig Meter langen Seils ab, ließen uns die letzten zwei fehlenden Meter zu Boden fallen. Unser Seil aber hatte sich im Feld verklemmt. Es ließ sich mit Gewalt und unter Einsatz eines Flaschenzugs zwar spannen, nicht aber herausziehen. Im Vertrauen darauf, dass unsere Reepschnüre und ein kleiner Teil des Restseils für den weiteren Abstieg genüge, schnitt ich die erreichbaren Enden des Seils ab und verknotete alles zu knapp zwanzig Metern Schnur. Doch schon bald erwies sich das abgeschnittene Seil im Abstieg als zu kurz. Es blieb uns nichts übrig: Wir mussten noch einmal hinauf, um den Rest des Seils zu holenden. Mit einer ungeheuren Kraftanstrengung gelang es mir die Stelle zu erreichen, an der sich das Seil verklemmt hatte, dort unter Einsatz des Flaschenzugs das restliche Seil zu lösen, die abgeschnittenen Enden und Reepschnüre mit dem Seilende neu zu verknoten, so dass ich abklettern und dann das Seil abziehen konnte. Mit dem wiedergewonnenen Seil kehrten wir schließlich mitten in der Nacht an den Wandfuß zurück.
Was mich dieser Tag gelehrt hat ist: Zum einen darf man nie leichtfertig Material zurücklassen oder seinen Verlust riskieren, da man nie weiß, ob es nicht in den nächsten Stunden das Leben aller Beteiligten retten kann. Und man darf niemals Routen einschlagen, deren Verlauf man nicht kennt, da sie sich zu leicht als Irrweg erweisen könnten. Vor allem aber darf man nie das Verhältnis von Körperkraft, Strecke und Zeit unterschätzen. Zusammengefasst heißt dies: Wer einen Weg geht, muss den Rückweg planen. Ansonsten endet der Lebensweg, bevor die ganze Strecke bewältigt ist. Und hierin steckt wahrscheinlich die wichtigste Erfahrung: Wer Überleben will, muss sein Leben und das Leben all seiner Begleiter ernst nehmen, jede Sekunde und mit voller Aufmerksamkeit. Ich habe mit meinem Vater eine zweite Chance bekommen. Doch eine zweite Chance gibt es nur einmal.
Ivo Meier ist Profi-Bergführer bei der Bergschule Alpine Welten.
Bilder Mount Kenya Besteigung
Mount Kenya - der zweithöchste Berg Afrikas und die höchste Erhebung Kenias bietet Bergsteigern, Kletterern und Wanderern ein wildes Ambiente abseits der Massen. Landschaftlich einmalig, verfügt das vulkanische Bergmassiv über steile Berggipfel und wilde Schluchten, durch welche beeindruckende Wandertouren führen. Die Besteigung der Hauptgipfel ist ein anspruchsvolles Unternehmen und an den bis zu 700 Meter hohen Felswänden befinden sich viele abenteuerliche Klettertouren.